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Brasilia, Retortenkapitale

Veröffentlicht am 20.12.2013

Dieses Mal gibt’s nur einen Beitrag, da letzte Woche nicht viel passiert ist; außer dass unsere Firma hier in Brasilien aufgrund fehlenden Geldflusses "Umstrukturierungsmaßnahmen" durchführen musste

Dieses Mal gibt’s nur einen Beitrag, da letzte Woche nicht viel passiert ist; außer dass unsere Firma hier in Brasilien aufgrund fehlenden Geldflusses "Umstrukturierungsmaßnahmen" durchführen musste, was in normalem Deutsch für nicht BWLer bedeutet: Leute entlassen!
Dies wurde uns am Dienstag in einer außerordentlichen Abteilungsbesprechung mitgeteilt; bei den Kollegen hat das aber nicht weiter für Aufregung gesorgt, denn die betroffenen Kollegen wurden zum größten Teil schon am Vortag informiert und sind gar nicht erst zur Arbeit gekommen. Das scheint hier normal zu sein, theoretisch gibt’s zwar 30 Tage Kündigungsschutz, aber meist wird die Nachricht mit einer entsprechenden Prämie überreicht und alle Passwörter und Berechtigungen im gleichen Moment gesperrt!
Dafür gibt’s hier aber kaum Zeitarbeiter oder andere externe Dienstleister, hat also alles Vor- und Nachteile…

Dummerweise ist von dieser Maßnahme auch ein direkter Kollege hier betroffen (mit dem ich die gesamte letzte Woche noch ein Training veranstaltet hab), deshalb müssen wir seine offenen Aufgaben auch noch verteilen...
Ansonsten musste ich feststellen, dass gerade wohl Tarifgespräche in allen möglichen Bereichen laufen, denn sowohl die Banken, die Post und unsere Fabrik in Araraquara waren dicht!

Aber nun zum interessanten Teil, ich habe am Wochenende Brasilia besucht, die erst knapp 50 Jahre alte Hauptstadt der Republik, die bewusst neu geplant und im brasilianischen Hinterland gebaut wurde, um einen Gegenpol zu den Küstengebieten rund um Sao Paulo und Rio zu bilden. Quasi die ganze Stadt wurde von drei Männern entworfen; Stadtplaner Lucio Costa, Architekt Oskar Niemeyer und Landschaftsarchitekt Roberto Burle Marx. Sie sind dafür verantwortlich, dass die ursprünglich geplante Stadt den Grundriss eines Flugzeugs hat (kann man bei Google Earth sehr gut erkennen).
Im "Cockpit" stehen die Gebäude des Kongresses, der Präsidentenpalast und das Oberste Bundesgericht, als Symbol der gelebten Gewaltenteilung. In der First Class sind sozusagen das Außen- und Justizministerium und in der Business Class sämtliche anderen Bundesministerien, alle in identischen Gebäuden, untergebracht, weiter hinten im Rumpf dann Hotels, Banken, Einkaufszentrum, Fußballstadion und weitere Momente wie die Kathedrale oder Nationalbibliothek, -theater und -museum.
In den Flügeln hingegen befinden sich die Wohnquartiere, eingeteilt in "Superquadras", was der Kerl im Tourist Office als perfekte Anlehnung an Le Corbusier und den Bauhausstil beschreibt; für alle Nicht-Architekten: mehrere frei stehende Plattenbauten werden mit einer großen Straße umringt und so zusammengefasst, obwohl man zugeben muss, dass die einzelnen "Blocos" deutlich kleiner sind, als wir es in Europa gewohnt sind und deutlich moderner aussehen...

Alles wird durch breite, teils sogar sechsspurige Straßen verbunden und das durch geschickte Trassenführung auf mehreren Ebenen, so dass es fast keine Kreuzungen mit Ampeln gibt. Vielleicht ist das auch der Grund, dass die Leute dann an einer tatsächlich roten Ampel auch nicht halten! Die Stadt wurde mit der Idee des freien Autoverkehrs geplant, damals hat wohl keiner daran gedacht, dass die Menschheit sich in Zukunft wieder mehr mit Fahrrad oder zu Fuß bewegen wird...Da auch die Entfernungen recht weit sind, hab ich eine Stadtrundfahrt mit dem Bis gemacht, hat sich aber gelohnt!
Los ging es beim Mausoleum von JK, alias Präsident Juscelino Kubitschek, der für den Bau der Stadt verantwortlich war und hier natürlich ein echter Volksheld ist! Danach haben wir zwei tolle Kirchen besichtigt, das Santuario Dom Bosco und die Catedral metropolitana, die trotz ihres jungen Alters durch ihre Architektur beeindrucken und auch irgendwie eine feierliche Atmosphäre schaffen. Obwohl von der Form her vollkommen unterschiedlich (Würfel und Kreiskegel), sind beide mit großen Buntglasflächen ausgestattet, aber im Fall der Dom Bosco Kirche erhellt zusätzlich ein 2-Tonnen-Kronleuchter den Raum, allerdings nur für 10 RS/min…
Beeindruckend sind auch die anderen Gebäude entlang der "Eixe monumental", die Achse des Flugzeugrumpfes, die mit sechs Spuren je Fahrtrichtung enorm wirkt, aber zum Glück durch einem ca 300m breiten Grünstreifen durchbrochen wird, auf dem regelmäßig Fußball, Rugby oder American Football gespielt wird. Die Grundstücke wären sicher sehr begehrt, aber der Grundriss der Stadt steht seit einigen Jahren unter dem Schutz der UNESCO als Weltkulturerbe, und dazu gehören halt leider auch die Freiflächen, ebenso wie die Plattenbauten...
Ganz an der Spitze, vor dem Cockpit steht ein 100m hoher Flaggenmast, an dem die einst größte Flagge der Welt mit 280m2 weht (Inzwischen haben die Mexikaner sich diesen Titel geklaut, genau wie die Goldmedaille in London, so hat es zumindest unser Tourguide schmunzelnd den mexikanischen Touristen in der ersten Reihe erklärt).

Über die JK Brücke, die irgendwie an Nessi erinnert sind wir an der Residenz des Präsidenten (oder besser der Präsidentin; Delma Roussef) und der städtischen Feuerwache vorbei, vor der wohl gerade der neue Gelenkmast, der unseren Claus aber so was von neidisch gemacht hätte, beübt wurde, wieder in die Hotelzone gefahren. Eine weitere Besonderheit der Stadt; hier gibt es bestimmte Zonen, in den eben alle Hotels oder alle Banken oder alle Krankenhäuser oder Werkstätten.. angesiedelt sind.

Zumindest bei den Bars und Restaurant fand ich das in der Nacht sehr praktisch, sind ähnlich kurze Wege wie in Ravensburg, auch wenn hier im Flugzeuggebiet ca.600000 Menschen wohnen!
Freilich sind all diese guten Ideen, die Struktur, Ordnung etc nur auf die eigentliche geplante Stadt bezogen, ringsherum wohnen die restlichen der knapp 2.5Mio Einwohner, die mit dem nötigen Kleingeld entlang des künstlich aufgestauten Sees mit Gartengrundstücken, die anderen in den wuchernden Vorstädten und Favelas, von deren Besuch aber überall dringend abgeraten wird!
Ich habe mich dann mutig ins Nachtleben gestürzt und eine interessante Freiluft-Kneipe entdeckt (Wir haben hier im Winter ja nachts zur Zeit immer noch über 20 Grad), in der alle Bedienungen seltsame Kopfbedeckungen trugen, das "Chiquita Bacana". Den Gästen hats wohl gefallen, der Alkohol floss in Strömen, selbst die Mädels haben sich an Bier-Ex Wettbewerben beteiligt und die Cocktails (die hier nicht viel teurer sind als gutes Bier) gingen weg wie warme Semmeln.
Dazu gab’s im Fernsehen live eine Art American-Thai-Kick-Box-Karate-Judo-Ringen Übertragung, in einem achteckigen Käfig, ohne Schuhe, nur leichte "Fahrradhandschuhe", bis einer blutet und noch weiter, stehend, auf dem Boden, incl Hebel und Würgegriffe. Wäre kein Schiedsrichter dabei gewesen, hatte es eher an eine echte Schlägerei erinnert...
Aber scheint sehr beliebt zu sein hier, der Tischnachbar hat mir den Sport als "vale tudo" beschrieben, also "alles erlaubt"!

Nachdem dann auch noch eine Promo-Jägerette vorbei kam und mir voller Stolz das neue In-Getränk im Reagenzglas namens "Jägermeister" präsentieren wollte, hab ich irgendwie ich die Zeit vergessen und die letzte U-Bahn verpasst, also bin ich nachts noch ein bisschen durch die Plattenbauten geschlendert, irgendwie seltsam so in der Dunkelheit, aber dank genug Caipirinha und dem großartigen "Eisenbahn Trigo" Bier, das dem Etikett zufolge „tipo Weizenbier“ ist und, Zitat: "gebraut nach dem deutschen Reinheitsgebot von 1516", hab ich mich nicht wirklich unsicher gefühlt, auch wenn da im Dunkeln komische Gestalten rumlaufen. Aber zum Glück hab ich recht bald auch ein freies Taxi gefunden. Das hab ich dann ausgenutzt und wir haben noch eine kleine nächtliche Rundfahrt gemachten, denn die Gebäude sehen nachts angestrahlt nochmal ganz anders aus!

Dementsprechend war der Sonntagmorgen dann für Schlafen reserviert und gegen Mittag hab ich mich nochmal auf den Weg zu den Regierungsgebäuden gemacht, um mir einige davon noch genauer und in aller Ruhe anzusehen. Aufgrund der gnadenlosen Hitze und Sonnenstrahlung im über 1000m über dem Meer gelegenen Brasilia wurde der Plan dann in eine Innen-Besichtigungstour des Nationalmuseums und Kongressgebäudes geändert..
Auch von innen ist das Gebäude absolut sehenswert!
Mit leichtem Sonnenbrand bin ich dann mit Flugzeug, Bus und Taxi wieder mach Alphaville gekommen, leider dauert so ein Trip immer ziemlich lang (diesmal knapp 4.5h), Brasilien ist halt doch größer, als es auf der Landkarte aussieht...